Vor 50 Jahren, am 9. Juni 1968, es war der Sonntag nach Pfingsten, erfolgte die feierliche Grundsteinlegung für das Kinder- und Jugenddorf St. Anton in Riedenberg durch Caritasdirektor Monsignore Robert Kümmert. Der Verein „Kind und Familie e. V.“ errichtete in der Folgezeit auf fünf Hektar Bauland in der Rhön 25 Familienhäuser, sieben Unterkünfte für Leitung und Angestellte der Einrichtung, eine Sondervolksschule, Turnhalle und Schwimmbad sowie eine schulvorbereitende Einrichtung.
Provisorische Anfänge
Bereits im Sommer 1968 trafen die ersten Kinder in der Rhön ein. Untergebracht in Riedenberger Privathäusern konnten sie das Bauvorhaben aus nächster Nähe verfolgen. Die Schule stand pünktlich zum Schuljahr 1968/69 bereit; die ersten Familienhäuser, mit ein wenig Verspätung, zu Ostern 1969. Ehrenamtlich unterstützt wurde das Großprojekt vom Internationalen Bauorden (IBO) aus Belgien. Mitte 1972 waren die ersten 15 Familienhäuser fertiggestellt; weitere Gebäude befanden sich im Rohbau. Doch die finanziellen Mittel waren erschöpft. Um den Weiterbau des Kinderdorfes sicherstellen zu können, übernahm 1973 der Caritasverband für die Diözese Würzburg die Trägerschaft, so dass St. Anton eine der wenigen Einrichtungen ist, die der Dach- und Spitzenverband bis heute direkt betreibt und verantwortet.
„Als ich nach Riedenberg kam“, erinnert sich Erzieherin Annerose Beißmann, „war mein Haus, es war die Nummer 20, noch gar nicht fertig. Trotzdem zogen wir ein, obwohl die Türen fehlten und die Fenster sich mangels Griff nicht öffnen ließen. Begrüßt worden sei sie damals von einem kleinen Jungen mit den unvergesslichen Worten: „Eins kann ich Dir jetzt schon mal sagen: Ich bin rotzfrech!” Zehn Jungs gehörten zur ihrer Gruppe. „Sie kamen alle aus zerrütteten Verhältnissen, teilweise traumatisiert, körperlich und seelisch verletzt.“ Unterstützt wurde sie als Hausmutter durch eine Kinderpflegerin, die damals einfach „Tante“ genannt wurde. 30 Jahre lang war Annerose Beißmann Erzieherin in Riedenberg und hält nach eigenen Angaben bis heute Kontakt zu einigen ihrer „Kinder“.
Einrichtung im Vollbetrieb
Zum Weihnachtsfest 1974 waren alle Häuser fertiggestellt. In Riedenberg lebten zu diesem Zeitpunkt 190 Jungen und Mädchen. Großküche und Wäscherei konnten ihren Betrieb aufnehmen, und wenige Wochen später wurden die Turnhalle und das langersehnte Schwimmbad an die Kinder übergeben. Mit einem Festakt weihte der Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes, Prälat Heinrich Schultes, das Kinder- und Jugenddorf am 25. Oktober 1975 ein.
Hilaria Dengler war über viele Jahre hinweg Mutter im Haus 9. Sie erinnert sich an das schwierige Verhältnis zwischen der Bevölkerung in Riedenberg und dem Kinderdorf. Sei etwas vorgefallen, suchte man die Schuld immer erst einmal in St. Anton. Viel Neid sei anfangs im Spiel gewesen, vermutet Dengler. „Das Kinderdorf war dem Dorf gegenüber finanziell viel besser gestellt.“ Sie habe sich ganz bewusst im Pfarrgemeinderat engagiert und viel für das Miteinander getan. Heute sei es selbstverständlich, dass die Kinder aus der Caritas-Einrichtung in den Riedenberger Vereinen mitmachten.
Neue Konzepte
War die Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens sehr gefragt und gut ausgelastet, 1977 lebten dort 200 Kinder, brauchte es Mitter der 1980er Jahre neue Ideen, um die Häuser gut zu nutzen. So entstand der Gästebereich. Bis heute können Gruppen und kirchliche Kreise Häuser anmieten, um schöne Tage in der Rhön zu verbringen. Jahr für Jahr bietet die Caritas hier eine Kinderfreizeit für Mädchen und Buben aus sozial benachteiligten Familien an.
Zur vollstationären Unterbringung gesellen sich inzwischen auch ein teilstationäres Angebot, eine Heilpädagogische Tagesstätte und der Psychologische Fachdienst.
„Früher haben die Kinder viele Jahre hier verbracht; heute ist man darauf aus, mit Kindern und Eltern so zu arbeiten, dass sie möglichst schnell wieder zu ihren Familien finden“, erläutert Einrichtungsleiter Stefan Schilde die Entwicklung. Und während in den ersten Jahren eine „Mutti“ und eine „Tante“ für zehn Kinder zuständig waren, seien die Gruppen inzwischen etwas kleiner, das Team der Fachkräfte hingegen sehr viel größer geworden.
Gebaut, erneuert und saniert wurde zu allen Zeiten. Eine Kapelle entstand 1993 und mit ihr auch ein großer Seminarraum. Drei Jahre später musste das Schwimmbad endgültig geschlossen werden. Dadurch wurde Platz frei für eine Turn- und Kletterhalle. Viele ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner berichten, wie wichtig ihnen sportliche Aktivitäten waren. An der Spitze habe stets der Fußball gestanden.
In den 1990er Jahren entstanden neue Wohnformen für Mütter bzw. Väter und ihre Kinder. Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder profitieren von der fachlichen Unterstützung durch das Kinder- und Jugenddorf. Seit April 2004 bietet die Caritas-Einrichtung zudem „Ambulante Hilfen“ und damit das ganze Spektrum im Bereich Kinder- und Jugendhilfe an.
Mit den Jahren, so Schilde, hätten sich auch die pädagogischen Konzepte verändert. „Neue Autorität“ heiße das wissenschaftlich fundierte und in der Praxis gut erprobte Modell. „Wir setzen auf Transparenz und Öffentlichkeit, auf wachsame Sorge, auf Selbstkontrolle und unterstützende Netzwerke“, benennt der Fachmann wesentliche Aspekte. Kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen für die Erzieherinnen und Erzieher seien selbstverständlich. Über den Kinderdorfrat seien auch die Mädchen und Buben aktiv in Entscheidungsprozesse, die sie betreffen, eingebunden.
Generalsanierung
Zwischen 2009 und 2011 erfolgte für etwa 5,5 Mio. Euro die ökologische Generalsanierung weiter Bereiche im Kinder- und Jugenddorf. Wärmedämmung und Biomasseheizung tragen dazu bei, die Umwelt zu schonen. Hinzukamen moderne sanitäre Anlagen und neue Fußböden in vielen der Häuser. Im Oktober 2011 wurde das generalsanierte Kinderdorf mit einem großen Festakt durch Bischof Friedhelm Hofmann eingeweiht. Seit September 2017 ist das Kinder- und Jugenddorf Heilpädagogische Einrichtung.
Gegenwärtig leben im Dorf 74 Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 20 Jahre in acht stationären Gruppen. 79 Frauen und zehn Männer arbeiten in der Caritas-Einrichtung.
Auf viele Jahre
„Für die Zukunft wünsche ich dem Kinder- und Jugenddorf viele Erzieher, die ihren Beruf als Berufung sehen“, sagt Christian Gerstner, der selbst 18 Jahre lang in der Einrichtung lebte. Peter Bauer, ebenfalls ein Ehemaliger, hofft, „dass alle Häuser mit Kinderleben erfüllt werden und Geld für die Sanierung der letzten Häuser da ist.“ Gemeinsam mit vielen schauen sie dankbar auf ihre Zeit in Riedenberg zurück und haben dabei ganz besonders ihre Hausmütter im Blick. Michael Kast, von 1970 bis 1982 Kind in St. Anton: „Ich darf im Namen vieler Ehemaligen sagen, wir waren im Heim und waren ‚Heimkinder‘, und es war das Beste, was uns passieren konnte.“